Skispringen: Die Anfahrtgeschwindigkeit

Erstellt am: 07.08.2019 09:54 / hn

Skispringen ist eine komplizierte Angelegenheit. Es geht um Technik, Mut, Erfahrung, Körperbeherrschung und unzählige kleine Details die am Ende zusammenpassen müssen. Eine der ganz wichtigen Größen ist die Anfahrtgeschwindigkeit, diese ist unter anderem beeinflusst durch die Anfahrtposition des Athleten sowie die Position, die Form und das Material der Skier.

Viel zu kompliziert also für einen normalen Skisprungfan. Nicht so aber für eine Handvoll Experten die sich mit genau dieser Thematik im Detail beschäftigten.

Matthias Scherge ist so ein Experte. Scherge ist Professor für Tribologie. Das ist die Wissenschaft von Reibung, Verschleiß und Schmierung. Prof. Scherge leitet das Fraunhofer MikroTribologie Centrum, lehrt am Karlsruher Institut für Technologie und managed das Team Snowstorm (http://www.team-snowstorm.de). Darüber hinaus berät er mehrere Ski- und Rodelteams in wissenschaftlich-technischen Fragen.

Aktuell hat sich Scherge mit der Anlaufgeschwindigkeit beim Skispringen beschäftigt.


Biomechanik und Tribologie auf der Schanze
Matthias Scherge

Mit einem Vorlauf von ca. 6 Monaten kam es am 31. Mai 2019 zu einem fachlichen Treffen von Biomechanik und Tribologie (Reibungswissenschaft). Auf der Keramikanlaufspur des WSV Oberaudorf wurden Schlittengleitversuche mit 4 unterschiedlichen Skimarken gleicher Geometrie durchgeführt. Vor den Gleitversuchen wurden die Ski hinsichtlich Spannung und Schwingungsverhalten charakterisiert. Es zeigte sich, dass besonders im Dämpfungsverhalten deutliche Unterschiede bestehen, die sich in der maximal erreichbaren Gleitgeschwindigkeit niederschlagen. Erste Auswertungen legen nahe, dass sich leichte Schwingungen der Ski positiv auf die Gleitgeschwindigkeit auswirken, wenn sie durch effektive Dämpfung im Zaum gehalten werden.

In einem zweiten experimentellen Block konnten biomechanische Einflüsse auf den Gleitvorgang quantifiziert werden. Hierzu wurde der Stiefel des Athleten mit einem Druckmesssystem (Novel, PedarX) ausgestattet, siehe Bild 1. Es folgten je 2 Fahrten in Normal-, Vor- und Rücklage. In weiteren Fahrten konnte eindrucksvoll belegt werden, dass der Athlet mit einer angeborenen leichten X-Stellung der Beine antrat, was zu Verkantung der Ski in der Spur und in deren Folge zu Geschwindigkeitseinbußen führte. Die Korrektur dieser Haltung durch erzwungene O-Stellung führte zu einer „normaleren“ Haltung und bewirkte eine Geschwindigkeitserhöhung, siehe Bild 2.

Wenn man die in Bild 2 gezeigte Geschwindigkeitsdifferenz auf Großschanzenverhältnisse linear hochrechnet, kann allein durch die Korrektur der Beinstellung ein Weitenzuwachs von ca. 1 bis 2 m erreicht werden.

Schließlich konnten mit einem Videoanalysesystem des Snowstorm Partners Simi Reality Motion Systems die biomechanischen Messungen komplettiert werden. Die Videoaufnahmen belegten ebenfalls den Einfluss der Beinstellung auf die Anlaufgeschwindigkeit.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die massive Kombination von anspruchsvoller Messtechnik mit langjähriger Trainererfahrung einen großen Mehrwert für die Weiterentwicklung des Skisprungs bietet, die vertieft werden sollte.

Das Team Snowstorm dankt den WSV Oberaudorf für die Bereitstellung der Anlaufspur und der Geschwindigkeitsmesstechnik.
Ein herzlicher Dank geht speziell an Lucas und Sepp Heumann!

Eine Videozusammenfassung gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=_MhRsAPaeyM&feature=youtu.be